Thema 2007
Vom Internet verweht
Etwas rinnt uns durch die Finger – nicht nur der Kulturteil, den die Berner Zeitung künftig über das restliche Blatt verstreut, den andere zurückschneiden und in Lifestyle umbenennen. Dass das Feuilleton nicht rentiert, das wussten wir schon immer, aber es war für das Verstehen der Welt unerlässlich und hat darum einen Profit jenseits des Aktienkurses abgeworfen. Aus dem viele Zeitungen ihr Prestige bezogen. Was uns heute bedrückt, ist der Kulturwandel. Dem Schwinden des Feuilletons entspricht der sinkende Stellenwert von Kultur in der Gesellschaft. Die jüngste Univox-Befragung hat den Beweis geliefert: Kultur ist jener Lebensbereich, der bei den Schweizern in den letzten Jahren (neben der Politik!) am meisten an Bedeutung verloren hat. Im Gegensatz zum Sport, der auf die vorderen Ränge gerückt ist; Sport ist jetzt der relevante Träger von Wertvorstellungen.
Natürlich, auch das ist die Schuld der Medien. Wirklich? Auch die Medien reagieren nur auf Trends, die sie bestenfalls verstärken. Man muss schon tiefer graben. Und kommt zum Schluss: Kultur ist nicht mehr jenes Leitmedium, zu dem sie sich nach 1968 erhoben hatte. Damals ging es um eine Kulturrevolution, mitsamt Marx, „Kapital“ und Rolling Stones. Der Fall der Mauer hat Kultur entpolitisiert, das Internet hat sie zu einem Gratis-Konsumgut degradiert, die Fülle der neuen Institutionen hat eine Art kulturellen Frieden geschaffen. Der Erfolg von 40 Jahren Kulturpolitik: Kultur ist für viele zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Also zu etwas, über das man verfügt, nach dem man nicht mehr streben muss.
Deshalb stellten 100 Vertreter der öffentlichen und privaten Kulturförderung sich am 15. und 16. März in Solothurn die Frage, wie es mit "Medien ohne Kultur, Kultur ohne Medien" weitergeht. Denn das Verschwinden des Kulturteils bringt die Kulturpolitik in Nöte. Es verschwindet jene Plattform, auf der sie ihre Kriterien öffentlich verhandelte. Jenes Forum, wo neue Entwicklungen gewürdigt und auf ihre Förderwürdigkeit geprüft wurden. Es löst sich auch jene Instanz auf, welche Kulturpolitik verhandelte. Der Wind hat den Sand der Ideologien verweht.
Jetzt erst beginnt – Kulturpolitik. Nicht, um das Rad der Zeit anzuhalten. Sondern um der Kultur in der herrschenden Diktatur der Zahlen und Aktienkurse Platz zu schaffen. Kultur ist noch immer Menschenbildung, sie ist noch immer jener Raum, in dem wir uns über die Gegenwart, über Nöte, Probleme und Alltagspolitik hinausbewegen. Kultur ist Denken und Empfinden auf einem anderen Orbit. Wenn sie es künftig ohne Hilfe der Medien tun muss, ist das bedauerlich. Aber sie wird neue Formen von Öffentlichkeit finden. Im Internet zum Beispiel. Kultur ist, tröstlich genug, immer das Problem und seine Lösung zugleich. Letztere mag Blog heissen oder Podcast oder YouTube oder MySpace, digitales Radio oder Internetfernsehen.
Für die Kulturpolitik bedeutet das: Weniger zeitgeistige Projekte, mehr kulturelle Gefässe fördern, in denen Auseinandersetzung mit der Gegenwart, mit Wahrnehmungen und Visionen sich abspielen kann. Keine Vorlieben mehr, sondern Spielräume, in denen die Kultur Geschichte schreibt. Mehr Diskussion in unseren Gremien. Mehr gesunder Streit. Der sich in den neuen Öffentlichkeiten spiegelt. Ob die traditionellen Medien solches überleben, bezweifle ich. Macht aber nichts; die Kultur wird sie nicht mehr benötigen.
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